Als ich starb …

… wurde ich ein weiters Mal geboren.

Ich kann mich an den ersten Tod dieses Lebens nicht wirklich erinnern. Es ist einfach schon zu lange her. Aber ich weiß noch, dass ich in einem Krankenhaus lag und operiert wurde. Das grelle Licht, dass den Operationsbereich auf meinem Körper beleuchten sollte, blendete mich … und ich bewegte mich darauf zu. Ganz klischeehaft schwebte ich über der Szene und sah den Ärzten zu, wie sie an mir herumschnippelten.

Irgendwann wachte ich auf. Und ich erinnere mich, dass ich im Fahrstuhl war, auf einem Krankenbett lag und zurück ins Krankenzimmer gebracht wurde. An die Zeit dazwischen habe ich keine Erinnerung (mehr).

Nur ein paar Jahre später kam ich wieder mit dem Tod in Berührung: Ich ging mit meiner (über Alles geliebten) Oma über den Friedhof. Meine Oma war sehr krank, was ich aber nicht wusste. Wir unterhielten uns über die Toten, die frisch Gestorbenen und auch darüber, was wohl passiert, wenn ein Mensch stirbt. Über den genauen Wortlaut unseres Gespräches kann ich mich (wieder) nicht erinnern, weiß aber noch, dass meine Oma meine Hand ganz fest drückte, als ich sagte, dass man nur die Erde verlässt, aber nicht einfach nur so tot ist. Auch ihre Antwort weiß ich nicht mehr; nur noch, dass die Antwort mir nicht wirklich in den Kram passte.

Als meine Großeltern am Sonntag wieder nach Hause fuhren, verabschiedete ich mich NICHT von meiner Oma. Ich sehe sie immer noch, wie sie mir winkend zulächelte und ich trotzig versuchte, dem Drang zu widerstehen, auch zu winken. In der darauffolgenden Nacht verstarb sie.

Knapp fünfeinhalb Jahre später traf es meinen Großvater. Er hatte einfach keine Lust mehr, zu leben. An jenem Wintermontag brachte ich, genau wie immer die letzten Monate, sein Abendbrot und wollte eigentlich noch etwas mit ihm zusammen fernsehen. Irgendwie kamen wir in Streit. Er war der Meinung, dass es für ihn nichts Lebenswertes mehr gab. Ich widersprach ihm natürlich: Er solle gefälligst nicht so egoistisch sein und auch noch an seine Enkel denken. Wutentbrannt und mit knallender Tür verließ ich sein Zimmer und verkroch mich heulend in mein Bett.

Eine halbe Stunde später stand der Notarztwagen vor unserem Haus und holte meinen Großvater ab. Ich stand an der Tür und hörte nur noch wie der Arzt zu meiner Mutter sagte, dass er diesmal wenig Hoffnung für meinen Großvater hatte. Und der Arzt sollte Recht behalten: Noch in der Nacht verstarb mein Opa.

Und wieder machte ich mir Vorwürfe, mich nicht ordentlich verabschiedet zu haben bzw. es zu einem Streit kommen zu lassen, der so schmerzlich endete.

Wenn man denkt, dass Kinder oder Jugendliche so etwas leicht wegstecken oder vergessen können, dann stimmt das zumindest in meinem Fall nicht. Wenn ich schon immer ein stiller, ruhiger Typ war, wurde ich durch diese Erlebnisse noch stiller, noch verschlossener…

Bis zu meinem nächsten Zusammentreffen mit dem Tod gingen über 7 Jahre ins Land: Ich war beruflich auf einer Baustelle auf Montage unterwegs. Die Kollegen, die ich kannte und schätzte, waren ein eingespieltes Team. Abends kochten wir immer zusammen unser Abendessen, aßen es gemeinsam und verbrachten auch noch den Rest des Abends in geselliger Runde gemeinsam.

Eines Nachts wachte ich mit schlimmen Bauchschmerzen auf. Das Gefühl, mich augenblicklich übergeben zu müssen, war immens. Ich schleppte mich aus dem Wohncontainer zum Badcontainer über den dunklen Hof. Die Nacht war kalt, es war Anfang Februar,  Schnee lag auf dem Boden und aus dünnen Wolken schneite es noch weiter.

Irgendwie schaffte ich es zur Toilette …

Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte ich mich erheben und schleppte mich zum Waschbecken, um mein Gesicht abzuwaschen und etwas Wasser zu trinken. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. Ich fror und schwitzte gleichzeitig. Die Tür des Containers stand offen, kalte Luft zog herein, der elektrische Heizlüfter versuchte vergebens, die kalte Luft zu erwärmen. Vor dem Waschbecken sank ich zu Boden. Die Krämpfe in meinem Inneren ließen nicht zu, dass ich stehen konnte. Ich umschloss meine Beine und dachte nur noch: So will ich nicht enden!

Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken: “Was machst du da?”

Ich hob mühsam meinen Kopf und sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. In der Tür stand ein Mann, den ich noch nie vorher gesehen hatte und von dem ich trotzdem nicht wusste, woher ich ihn kannte. Ich könnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wie groß er war oder wie er gekleidet war. Ich meine, er hatte eine wollene Mütze auf und war sowohl so groß, dass es gerade so in den Türrahmen passte als auch so klein, dass der blasse Mond hinter ihm ungehindert das Innere des Containers erleuchten konnte.

Mit Tränen in den Augen versuchte ich ihm zu erklären, was mit mir los sei. Beschwichtigend hob er eine Hand und meinte: “Du brauchst keine Angst zu haben. Du stirbst hier und heute noch nicht.” Ich wollte eigentlich lachen und erwidern, dass er ja keine Ahnung hatte. Jedoch unterbrach er meinen Gedanken mit den Worten: “Alles wird gut.”

Daraufhin drehte er sich um und verschwand. Ich mühte mich auf, um ihm hinterher zu kommen. Jedoch, als ich die Tür erreichte, war er nicht mehr da. Ich stand da und fror und schwitzte immer noch gleichzeitig. Vom Bad- zum Wohncontainer war nur eine einzelne Spur im Schnee zu sehen: Die Spur, die ich selber gemacht hatte…

Das Ganze ist jetzt fast schon eine “Ewigkeit” her. In den vergangenen Jahren habe ich mich immer daran festgehalten, “dass alles gut wird”. Und irgendwie gab es auch immer eine gute Wendung bei speziell schwierigen “Dingen”. Immer wieder kam die sprichwörtliche Rettung in letzter Minute. Immer wieder …

Jedoch stehe ich heute hier und habe die Kraft verloren. Die Kraft an mich selber, die Kraft auf die Rettung in allerletzter Sekunde … Ich will auch gar nicht mehr. Ich will nur noch, dass es endlich zu Ende ist.

Oder, “dass alles gut wird”.

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